Er ist ein namhafter Experte u.a. für die Themen Wissenserwerb, Wissensmedien und insbesondere Videolearning: Ein Gespräch mit Prof. Dr. Stephan Schwan über Selbstlernkompetenz, die Messbarkeit des Lernerfolgs und die wichtigsten Punkte, die es für die Erstellung guter Schulungsfilme zu beachten gilt.
- Herr Professor Schwan, Sie leiten die Arbeitsgruppe „Wissenserwerb mit Cybermedia“ am Tübinger Leibnitz-Institut für Wissensmedien. Können Sie Beispiele nennen, was Sie dort konkret erforschen?
Wir untersuchen anhand von Methoden und Theorien der Kognitionspsychologie, wie Zuschauer audiovisuelle Medien – von Videos bis zu virtuellen Realitäten – wahrnehmen und verarbeiten, um zu Lernen und um Wissen zu erwerben. Aus den Ergebnissen ziehen wir Schlussfolgerungen, wie diese Medien so gestaltet werden können, dass sie Lernprozesse möglichst gut unterstützen.

Der Wissenschaftler und Videolearning-Experte Prof. Dr. Stephan Schwan
Konkret geht es dabei beispielsweise um folgende Fragen:
- Profitieren Lerner von Inhalts- und Stichwortverzeichnissen, durch die sie gezielt bestimmte Abschnitte in Lernvideos ansteuern können?
- Nach welchen Prinzipien sollten Videozusammenfassungen von Prozessen und Handlungsabläufen gestaltet sein, damit sie für die Lerner gut verständlich sind?
- Wie kann durch Kamera- und Schnitttechniken die Aufmerksamkeit von Zuschauern auf wichtige Details gelenkt werden?
- Wie trägt das Zusammenspiel von Bild und Ton zur Verständlichkeit eines Lernvideos bei?
- Video setzt sich beim Lernen, beispielsweise bei der Weiterbildung, immer stärker durch. Würden Sie sagen, Video als Lernmedium wird über- oder unterschätzt?
Videos haben ihre Stärken, wenn es um dynamische Lerninhalte handelt, die sich im Zeitverlauf aufbauen oder ändern, wenn es darum geht, reales Geschehen in seinem Detailreichtum abzubilden oder wenn es auf eine direkte und persönliche Ansprache der Lerner ankommt.
In ihrer digitalen Form bietet die Videoaufzeichnung im Gegensatz zu einer „live performance“ den Lernen zudem viele weitere Steuerungsmöglichkeiten, z.B. Wiederholbarkeit oder Abspieltempo. Andererseits lassen sich komplexe, abstrakte und unanschauliche Inhalte oft besser durch Texte vermitteln.
- Beim Vergleich der Wirksamkeit verschiedener Lernmedien ist ein ausschlaggebendes Kriterium, wie gut der Wissensaufbau und der langfristige Lernerfolg funktioniert. Aber wie kann man Wissensaufbau und Lernerfolg eigentlich messen?
Für den Wissensaufbau ist vor allem der Lernverlauf interessant, d.h. welche Lerninhalte beachtet wurden, wie lang und intensiv sich ein Lerner mit dem jeweiligen Inhalt auseinandergesetzt hat, welche Darstellungsformen – z.B. Text oder Bild – er bevorzugt hat und in welcher Reihenfolge die verschiedenen Lerninhalte bearbeitet wurden. In unseren Studien werden die Inhalte meist digital dargeboten, sei es am Computerbildschirm oder auf einem Tablet. Wir haben dadurch Zugriff auf alle Aktionen, die ein Lerner mit dem Lernmaterial gemacht hat, beispielsweise an welchen Stellen ein Lernvideo verlangsamt oder gestoppt wurde, ob bestimmte Abschnitte wiederholt oder andere Abschnitte übersprungen wurden.
Ergänzend bietet beispielsweise die Blickaufzeichnung mit Eye-Trackern weiteren Aufschluss darüber, was auf einem Bildschirm gelesen oder betrachtet wurde. Der Lernerfolg kann dann entweder zeitnah oder nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne, beispielsweise einer Woche, gemessen werden. Die eingesetzten Testverfahren prüfen das Gedächtnis für die Lerninhalte, die Bewältigung von bestimmten Lernaufgaben und die Fähigkeit, das Gelernte auf neue Problemstellungen zu übertragen.

Ein Smartphone-Nutzerin mit einem „Eyetracker“: Eye Tracking ist ein Verfahren, um Blick-Bewegungen und -Fixationen aufzuzeichnen – und dadurch aussagekräftige Daten zu erzielen, etwa darüber, wie Schulungsfilme genutzt werden [(c) SMI Eye Tracking]
- Um ein gutes Schulungsvideo zu erstellen – worauf sollte ein Produzent unbedingt achten?
Vor allem sollte dem Video ein sehr gutes, didaktisch durchdachtes Skript zugrunde liegen. Wichtig ist dabei eine klar erkennbare und inhaltlich gut nachvollziehbare Gliederung, die auch einen einführenden Vorspann, einen „advance organizer“, und eine abschließende Zusammenfassung der wichtigsten Punkte umfasst.
Falls Handlungsabläufe im Zentrum stehen, sollten diese Handlungen nicht einfach so abgefilmt werden, wie sie auftreten, sondern im Hinblick auf das Lernen optimiert sein; z.B. deutlich sichtbare Gesten, schnelle Handlungen langsamer ausführen. Falls ein Folienvortrag im Zentrum steht, sollte auf eine gute Abstimmung zwischen Filmeinstellungen das Sprechers und Filmeinstellungen der Folien geachtet werden. Ganz generell sollten Aufnahmen natürlich eine ausreichende technische Qualität haben – also bei Bildschärfe, Ausleuchtung, Ton – und filmischen Standards genügen, etwa der z.B. Einhaltung der 180°-Regel.
- Gibt es Erkenntnisse darüber, ob das Lernen mit einem Selbstlernmedium – z.B. einem Schulungsvideo oder einem Fachbuch – effektiver funktioniert als bei einer klassischen Präsenzveranstaltung, beispielsweise einem Seminar?
Selbstlernmedien haben gegenüber Präsenzveranstaltungen den großen Vorteil, dass sie es Lernern erlauben, den Lernprozess individuell nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Aus der empirischen Forschung weiß man allerdings, dass das nur gelingt, wenn Lerner über eine ausreichend hohe Kompetenz zum selbstgesteuerten Lernen verfügen. Beispielsweise sollten sie sich nicht zu stark von Verzweigungen im Lernmaterial ablenken lassen. Außerdem ist es günstig, wenn Lerner bereits ein Grundwissen über das Lernthema erworben haben.
Im Normalfall sind Präsenzveranstaltungen und Selbstlernmaterialien aber keine Gegensätze, sondern ergänzen sich sinnvoll. Wo keine Präsenzveranstaltung möglich ist, sollten die Selbstlernmodule auf alle Fälle von weiteren, moderierten online-Formaten begleitet werden, die Lernern die Option bieten, Fragen zu stellen und die Lerninhalte zu diskutieren. Sinnvoll sind auch Möglichkeiten, das Videomaterial individuell zu annotieren und diese Annotationen mit anderen Lernern zu teilen.
- Mal ganz provokant gefragt: Zu Zeiten von Vorlesungen auf YouTube und in MOOCs – brauchen wir überhaupt noch mehrere Professoren, die „Präsenz-Vorlesungen“ zum gleichen Thema anbieten?
Vorlesungen sollen ja einen umfassenden Überblick über ein Fach oder einen größeren Themenbereich geben. Sie können deshalb nie „objektiv“ und umfassend sein, sondern sind selektiv und vom Blickwinkel und spezifischen Know-how des jeweiligen Referenten geprägt. Diese Vielfalt der Zugänge zu einem Thema sollte auf keinen Fall verloren gehen.
Eine andere Frage ist, ob ein Professor seine Vorlesung tatsächlich jedes Semester in meist nur leicht veränderter Form halten sollte. Hier bieten zum Beispiel „flipped classroom“-Konzepte eine Alternative: Die Studierenden schauen sich die Vorlesung auf Video an, die Präsenztermine werden dann genutzt, um Fragen zu beantworten, die Inhalte kritisch zu diskutieren und Aufgaben zu bearbeiten.

Die wesentliche Eigenschaft von Flipped Classroom in einem Bild – mehr darüber und über die wichtigsten Vorteile von Flipped Learning gibt es übrigens in diesem Blog-Artikel [(c) Oliver Tacke]
- Stellen Sie sich vor, Sie wären der Verantwortliche für die Personalentwicklung und Weiterbildung in einem großen deutschen Unternehmen, in dem Sie freie Hand beim Einsatz von Videolearning hätten. Wie würden Sie an diese Aufgabe herangehen?
Falls das Unternehmen so groß ist, dass es sich lohnt, in Eigenregie Videolearning zu implementieren: Voraussetzung ist ein professionelles Team mit einer entsprechenden technischen Ausstattung, eine Bedarfsanalyse und darauf aufbauend ein schlüssiges Konzept für eine Bibliothek von Lernvideos.

„Digital Badges“ sind ein beliebtes Mittel zum sichtbaren Lernnachweis, aber auch als Gamification-Element zur Steigerung der Motivation der Lernenden – mehr dazu erfahren Sie in unserem Gamification-Artikel
Neben den Aspekten der Videoproduktion, die ich ja bereits angesprochen habe, sollte man noch auf weitere Punkte achten: Eine gut recherchierbare Datenbank für die Videomodule, Verknüpfung der Videos mit weiteren Lernmaterialien und Selbsttests sowie Möglichkeiten der Zertifizierung des Lernerfolgs, beispielsweise durch sogenannte „digital badges“. Und schließlich halte ich es für wichtig, die Videomodule im Hinblick auf ihren Lernerfolg regelmäßig zu evaluieren und im Bedarfsfall zu überarbeiten und zu optimieren.
Herr Professor Schwan, vielen herzlichen Dank für das Interview!
„Bonus-Video“: Hier sehen Sie Stephan Schwan in Aktion – bei den „Science Notes“ hielt er einen Vortrag zum Thema „Muss man Filme sehen lernen“?
Hier finden Sie die Kontaktdaten von Prof. Dr. Stephan Schwan.
[…] Vor allem sollte dem Video ein sehr gutes, didaktisch durchdachtes Skript zugrunde liegen. Wichtig ist dabei eine klar erkennbare und inhaltlich gut nachvollziehbare Gliederung, die auch einen einführenden Vorspann, einen „advance organizer”, und eine abschließende Zusammenfassung der wichtigsten Punkte umfasst. …” Leo Molatore, Interview mit Stephan Schwan, Wissen in Bewegung Blog/ Pink University, 13. April 2016 […]
[…] TU Darmstadt konnte man meine Zeichnung für einen Blogbeitrag gebrauchen. Ähnlich sah es bei Pink University […]